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Zwischen Recht und Literatur: Die Kriminalfallsammlung des Neuen Pitaval in der literaturwissenschaftlichen Korpusanalyse

Das 19. Jahrhundert, in dem sich unser heutiges System der wissenschaftlichen Fachkulturen herausgebildet hat, war eine Epoche des Sammelns und Ordnens von Wissensbeständen, die häufig zwischen den Disziplinen lagen. An Kriminalfällen lernte das Recht die individuelle Sachverhaltsdarstellung für den Strafprozess, die Literatur die realistische Erzählkunst für ein modernes Massenpublikum. Als erste global vergleichende und zugleich umfangreichste Kriminalfallsammlung im deutschsprachigen Raum spielte der Neue Pitaval (1842-1890) eine entscheidende Rolle bei der Entstehung eines allgemeinen Rechtsbewusstseins. Um den inauguralen Diskurs dieser Sammlung rekonstruieren zu können, muss sie in ihrer ganzen Vielfalt als Korpus von 540 Fallgeschichten analysiert werden.Unser Projekt verfolgt dazu einen auf historische Forschungsfragen gegründeten Ansatz, der die verschiedenen Methoden der digitalen Korpusanalyse auf das jeweilige Erkenntnisziel abstimmt. Semantische Verlaufsanalysen untersuchen, welche Themen wann Konjunktur hatten und wie die Geschichten unter wechselnden Umständen rechtspolitisch perspektiviert wurden. Narratologische Analysen gehen den Erzählmustern auf den Grund, die sich dabei entwickelten. Zur Unterscheidung juristischer und literarischer Darstellungsweisen werden digitale Verfahren mit unterschiedlicher Kontextsensitivität kombiniert. Bei Stiluntersuchungen, die auf der Ebene von Sätzen und Wörtern operieren, lassen sich verschiedene Abstraktionsniveaus algorithmisch analysieren. Erzählanalysen benötigen dagegen kollaborative Annotationen größerer Textabschnitte und lassen Fragen der Automatisierbarkeit selbst als hermeneutisches Problem erscheinen, über das die Untersuchung am Gegenstand lernt.Zwischen Recht und Literatur ist die juristische Fallgeschichte im 19. Jahrhundert ein populäres Wissensmedium, in dem die normativen Orientierungen und das Rechtsverständnis der bürgerlichen Gesellschaft beobachtbar werden. Der Frage nach der Gattungspoetik dieser Textsorte kommt daher besondere Bedeutung zu. Wir untersuchen sie im Rahmen von Vergleichsanalysen mit anderen zeitgenössischen Korpora, die zum Pitaval im Verhältnis der Medienkonkurrenz standen. Die Kriminalgeschichten im Familienblatt Die Gartenlaube und die Kriminalnovellen des Deutschen Novellenschatz unterhielten potentiell das gleiche Publikum. Im Mittelpunkt des Vergleichs stehen globale und lokale Themenkonjunkturen im Verhältnis zur Kategorisierung ermittelter Signalstärken bei der Klassifikation, wobei wir über die Affektstärken der Texte wirkungsästhetische Aspekte einschließen.

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Quelle der Beschreibung: Information des Anbieters

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Technische Universität Darmstadt (TUD)
Institut für Sprach- und Literaturwissenschaft
Deutschland

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