Die historischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts ragen wie Nachbeben eines Erdbebens in unsere Zeit hinein. Jede »kleine Geschichte«, jedes einzelne Leben trägt Spuren der »großen Geschichte« in sich. 24 sehr persönliche Lebensgeschichten erzählen vom Zusammenhang von Vergangenheit und Gegenwart und porträtieren gleichsam ein ganzes Jahrhundert. Jedes Nachbeben stellt uns vor die Frage, wie vergangene Erfahrungen unsere Erinnerung, unsere Wahrnehmung der Welt, unsere Identität im Hier und Jetzt prägen - auch über Generationen hinweg. Das Erdbeben von Valdivia war das schwerste Erdbeben des 20. Jahrhunderts. Am 22. Mai 1960 um 15:11 Uhr zeigten die Seismographen eine Amplitude von 9,5 auf der Richterskala an. -- Beben: 22. Mai 1960 -- »Da hat es gewackelt. Ich bin gleich hingefallen. Du hast keinen Halt mehr, du kannst dich nicht auf die Erde verlassen. Und dann die Nachbeben. Man weiß ja nie, wie heftig der nächste Stoß ist, man denkt, der nächste kommt, und noch schlimmer. Und dann kamen die Flüchtlinge. Die waren ja ausgebombt, ausgebebt. Wir haben die versorgt, wie man das eben gelernt hatte bei den Wandervögeln. Mutter war ja auch Wandervogel.« -- Nachbeben: 8. Februar 2012 -- »Ich habe mich nie mehr sicher gefühlt, hatte ja nie Vertrauen ins Leben. Doch, zu Hause, vor 45. Ich kann mich der Erinnerung nicht entziehen. Im Traum gehe ich immer wieder mit unter. Manchmal wache ich nachts auf und Mutter sitzt an meinem Bett. Dann muss ich mir einen kräftigen Schluck Wodka eingießen.« -- Das Erdbeben hat Hildegard Juhl viele Jahre zurückgeführt ins Zentrum ihrer persönlichen Lebenskatastrophe. Beim Untergang der Wilhelm Gustloff am 30. Januar 1945 sind ihre Mutter Erna, ihr Bruder Hans und ihre Schwester Deike im eiskalten Wasser der Ostsee ertrunken. Sie erzählt vom Erdbeben in einer Sprache, die beide Katastrophen miteinander verwebt: Aus Erdbebenobdachlosen werden erst $aausgebombte$z, dann $aausgebebte Flüchtlinge$z, so entsteht eine direkte Beziehung zwischen 1945 und 1960. Das Erdbeben war stark genug, um als Metapher ein lebenslanges Nachbeben des Winters 1945 auszudrücken. -- Das 20. Jahrhundert hat viele Nachbeben hinterlassen. Sie finden sich in den Lebensgeschichten derer, die es erlebt haben. 24 Lebensgeschichten finden sich in unserem Buch
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