Seit sich in Europa ein Bewußtsein von Geschichte konstituiert hat, ist auch das Problem der Kanonbildung thematisiert und reflektiert worden. In jüngster Zeit ist die Frage nach einem verbindlichen literarischen Kanon wieder stärker in die öffentliche Diskussion gelangt, und Politiker wie Bundestagsprasident Wolfgang Thierse haben für dessen neuerliche Konstituierung plädiert. Daraus läßt sich zumindest schließen, daß das Problem aktuell und virulent geblieben ist. Historisch betrachtet ist es ohnehin immer von großer Relevanz gewesen, denn die Frage nach einem literarischen Kanon hängt aufs engste mit den Aufgaben des Literaturhistorikers zusammnen, historische Zusammenhänge herstellen, qualitativ ästhetisch werten und bewerten zu müssen. Gilt nun Gleiches oder Ähnliches, so wäre zu fragen, auch für den Literaturarchivar? Ist auch er gehalten, bei der Archivierung kultureller Gedächtnisleistungen selektiv vorzugehen, also von vornherein auszulesen und nur das "Vortreffliche" in seine Sammlungen aufzunehmen? Folgt er dabei Rahmenbedingungen, wie sie aus dem politischen, kulturellen oder wissenschaftlichen Kontext erwachsen, oder kann er selbst richtunggebend und wirkungsetzend Einfluß ausüben, mit seiner Sammeltätigkeit selbst produktiv auf kulturelle Entwicklungsprozesse und wissenschaftliche Fragestellungen zurückwirken? Welche Rolle spielen Zufälle, spielt der persönliche Geschmack? Stellen sich solche Fragen unverändert über die Jahrhunderte hinweg, oder unterliegen auch sie, wie historische Fragestellungen generell, wechselnden Akzentuierungen oder gar Paradigmenwechseln? Ein ganzes Bündel von Problemen, auf das im folgenden eine vernünftige Antwort gesucht werden soll.
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