Die Vita Heinrich Seuses ist aufgrund ihrer Komplexität und ihres literarischen wie theologischen Anspruchs ein herausragender Text. In ihrem Zentrum steht der Diener der ewigen Weisheit, der exemplarisch einen Weg in die Gelassenheit als Einheit mit Gott vorführt. Dieser Band nimmt diese Figur zum Ausgangspunkt, um den komplexen Text umfassend und neu zu erschließen. Die narratologische Kategorie ‚Figur‘ wird dabei erweitert und für den geistlichen Text und seinen Entwurf einer religiösen Identität adaptiert. Im Mittelpunkt der Textanalysen stehen narrativen Formen, über die die Vita religiöse Phänomene im Erzählen darstellbar macht. Geistliche Übungen als Grundlage des klösterlichen Lebens, wie Askese oder Meditation, werden über literarisch-narrative Verfahren sicht- und nachvollziehbar, während das nicht Erzählbare in Transgressionen und Abbrüchen auf das Entzogene verweisen kann, das den Weg in die Gottheit notwendigerweise begleitet. Ein besonderes Augenmerk liegt auf dem zweiten Teil der Vita, dem aufgrund der Heterogenität bislang häufig mit Irritation begegnet wurde. Die Analyse zeigt, dass diese heterogene Vielfalt von Textsorten und Bildern kein Mangel sind, sondern eine Strategie. Die Studie entschlüsselt über die Figuren die komplexen Textverfahren und entwickelt mit dem innovativen methodischen Ansatz eine neue Herangehensweise, um ausgehend von der Figur die Verschränkung narrativer und religiöser Phänomene und deren Funktionsweise zu beschreiben. Die Vita Heinrich Seuses zählt zu den herausragenden Textzeugnissen mittelalterlicher Mystik, dennoch fehlte seit längerem eine aktuelle Monographie. In der vorliegenden Studie wird die Vita anhand der Leitkategorie „Figur“ neu erschlossen. Anstatt davon auszugehen, dass die dort beschriebenen Erfahrungen vom Autor selbst gemacht wurden, steht die Konstruktion der Figur über narrative Strategien im Zentrum. Denn die Figur wird nicht einfach gesetzt, sondern als religiöse Identität in performativen Akten immer wieder neu entworfen. Die Figur stellt so ein Modell zur Verfügung, das gleichzeitig als Vorbild dient und das Problem der (richtigen) Nachahmung verhandelt. Gleichzeitig wird dieses geschlossene Modell im zweiten Teil der Vita aufgelöst und individualisiert. Die Auflösung des erzählten Modells wird ebenfalls in narrativen Strukturen abgebildet und ermöglicht so einen Nachvollzug in der Lektüre. Die narratologische Kategorie „Figur“ allein reicht dabei nicht aus, um die historischen Spezifika des Textes zu beschreiben. Sie wird in der Studie darum verbunden mit literaturwissenschaftlichen Konzepten der Performativität, Textualität und Literarizität und erhält so historische Tiefenschärfe. Die Vita Heinrich Seuses zählt aufgrund ihrer Komplexität und ihres literarischen und theologischen Anspruchs zu den herausragenden Textzeugnissen der spätmittelalterlichen mystischen Literatur. Die vorliegende Arbeit erschließt die Vita über die Figur des Dieners der ewigen Weisheit, die das narrative Zentrum bildet. Die narratologische Kategorie 'Figur' wird dazu erweitert und für den geistlichen Text und seinen Entwurf eines geistlichen Lebensmodells adaptiert. Mit diesem Ansatz kann die Textanalyse beschreiben, welche narrativen Verfahren die Figur konstituieren und in welchem Verhältnis die narrative Gestaltung und die theologischen Konzepte stehen.
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