Es gibt nicht sehr oft kunstvolle Romane, die man auf mehreren Ebenen lesen kann, weil sie einerseits eine spannende Geschichte erzählen und andererseits eine philosophische oder historische Reflexion enthalten. Versuche dieser Art sind keine Spezialität der Postmoderne, denn schon paradigmatische Werke des 18. Jahrhunderts wie "Robinson Crusoe" oder "Gullivers Reisen" sind immer gleichzeitig Abenteuerliteratur für Leser "von 8 bis 80" und Auseinandersetzungen mit dem philosophischen Zeitgeist gewesen.Meistens geht aber ein solcher Versuch schief. Dann ist entweder die Geschichte nicht spannend oder die zweite Ebene der Reflexion bleibt allzu aufgesetzt und der Erzählung fremd; fast wie eine Werbe- oder Propaganda-Einblendung. Man merkt die Absicht und man ist verstimmt. Im vorliegenden Fall ist der Versuch jedoch gelungen. Die erzählten Abenteuer lassen nichts zu wünschen übrig; Geheimnisse und deren Enthüllung kommen ebenso vor wie grandiose Schauplätze, wogende Schlachtszenen und dramatische Fluchten durch unterirdische Verliese. Auch Jugendliche können das mit roten Ohren lesen, zumal Kinder und Halbwüchsige zu den Helden der Geschichte gehören. Die reflexive Ebene ist nicht lehrhaft-langweilig angehängt, sondern sie bildet sich aus dem Fluß des Geschehens selbst, mit dem sie verwoben bleibt. Und gerade deshalb kann die kritische Reflexion nicht so leicht abgewiesen werden. Sie stört nicht, sondern sie ergibt sich zwingend aus der Sache selbst. Es tut weder der Spannung noch dem geschichtskritisch-philosophischen Aspekt Abbruch, daß eine uralte, längst bekannte und tausendmal repetierte Geschichte erzählt wird: nämlich der Trojanische Krieg. In der Kunst überhaupt ist ja weniger das Neue schlechthin das Belebende, sondern die neue, vielleicht verstörende Sicht auf das, was man seit Kindertagen als scheinbar festen Wissens- und Imaginationsbestand mit sich herumschleppt. Und in diesem Sinne ist der Roman so etwas wie ein Schlag ins Gesicht der klassischen bürgerlichen Bildung. Sämtliche aus der Ilias und aus antiken Sagen vertrauten Großhelden erscheinen als Großmäuler, Feiglinge und Verbrecher. Achilles ist ein brutaler Söldnerführer der halbwilden Myrmidonen; Odysseus ein hinterfotziges, intrigantes und skrupelloses Schwein; und Menelaos ein krummbeiniges, lächerliches und ziegenbärtiges Männchen, dessen Truppe im griechischen Heer spöttisch "die Ziegenherde" genannt wird. Der Fürst Agamemnon läßt seinen heiseren Trinkerbaß erschallen und blickt grundsätzlich nicht durch. Hektor auf der Gegenseite, ein berüchtigter Schläger, ähnelt auf fatale Weise Udei, dem Sohn Saddam Husseins. Und der sagenhafte Held Jason auf der Suche nach dem goldenen Vlies entpuppt sich als schwabbelig-fetter Mordbrenner und Sklavenhändler. Ein blinder Sänger kommt zwar vor, aber er ist ganz und gar kein Chefpropagandist der herrschenden Heldenmoral. Nichts für den gewöhnlichen Feld-, Wald- und Wiesen-Oberstudienrat also. Die bloße Ahnung, daß es so vielleicht wirklich gewesen sein könnte, dementiert nicht allein die Bildungstradition, sondern auch die Rede von der bis in jene Zeiten zurückreichenden abendländischen Zivilisation, die zum Beispiel gegen die "asiatische Barbarei" verteidigt werden müsse. Ein solches geschichtsideologisches Denken kann keine Glaubwürdigkeit mehr beanspruchen, wenn sich schon die mythologisierten Ursprünge jener gefeierten westlichen Welt als eine einzige Abfolge von Untaten just aus Asien eingewanderter patriarchalischer Killerhorden erweisen. Und so ist es weitergegangen; bis zum westlichen Krisenkolonialismus unserer Tage, der sich mit seiner Selbstlegitimation auch auf jenes Griechentum beruft, dessen "blühende Landschaften" der mythologischen Verklärung, die schon in der klassischen Antike Schulbuchlektüre geworden war, hier mit wenigen Pinselstrichen in eine Art cloaca maxima verwandelt werden - und zwar nicht nur metaphorisch, sondern auch buchstä
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