Ilse Aichingers 'Spiegelgeschichte' ist einer der schon früh zum Klassiker avancierten Prosatexte der österreichischen Nachkriegsliteratur. Nachdem Aichinger seit Anfang des Jahres 1948 gut eineinhalb Jahre daran gearbeitet hatte, erschien der Text erstmals in drei Fortsetzungen im August 1949 in der Wiener Tageszeitung, 1952 folgte die Publikation in der Rede unter dem Galgen betitelten Ausgabe von Hans Weigel. Isoliert man das erzählte Geschehen aus der von einer anonymen Du-Stimme anachronisch erzählten Analepse, erzählt man die spiegelverkehrt vergebenen Informationen im Text also 'realistisch' nach, so hat man es zunächst mit einem recht simplen plot zu tun: Eine junge Frau erlebt mit dem frühen Verlust ihrer Mutter und der damit einhergehenden Verantwortung für ihre jüngeren Brüder eine schwere Kindheit, verliebt sich, träumt von einer guten Zukunft, wird ungewollt schwanger und lässt von einer Kurpfuscherin eine Abtreibung vornehmen, an deren Folgen sie stirbt. Aichinger verweigert ihrer Geschichte aber einen solchermaßen linearen Verlauf und unterminiert alle traditionellen "Parameter der realistisch-mimetischen Schreib- und Leseweise", indem sie logische wie chronologische Denkmuster aushebelt. Ihre Geschichte beginnt mit einem Irrealis, nämlich der Imagination des Tot-Seins: Die im Krankenhaus im Sterben liegende Protagonistin antizipiert die eigene Begräbnissituation, schickt sich selbst aus ihrem Grab wieder hinaus und vergegenwärtigt sich ihr Leben stationsweise raffend jeweils gegenchronologisch vom Grab, über die Leichenhalle, das Sterbebett, die Abtreibung, die Liebesgeschichte, den ersten Geschlechtsverkehr, die Schulzeit und die Kindheit bis zu ihrer Geburt.
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