So spektakulär W.G. Sebald die Beziehung zwischen Leben und Werk Alfred Anderschs skandalisierte, so entschieden lehnte man vor allem in Deutschland diesen Ansatz als unzulässiges Verquicken von strikt zu Trennendem ab. Deshalb bleibt bis heute offen, wie sich bei Andersch literarische Konstruktion und lebensgeschichtlicher Stoff tatsächlich zueinander verhalten. Zur Klärung dieser Frage arbeiten nun Literatur- und Geschichtswissenschaftler eng zusammen. Könnte es sein, dass gerade Autoren wie Andersch, die sich selber als non-konformistisch bezeichneten, zu"Konformisten eines biografischen Moralismus" (U. Wittstock) wurden, der es ihnen erschwerte, sich zu Zugeständnissen an das NS-Regime, und seien es vergleichsweise geringe, nachträglich zu bekennen? Auch die Motivationslagen Sebalds werden in den hier präsentierte Beiträgen angesprochen und diskutiert. Die Ergebnisse dürften für alle interessant sein, die sich mit Problemen und Verdiensten der deutschen Nachkriegsliteratur beschäftigen. "Seit fast zwei Jahrzehnten reißen die literaturwissenschaftlichen Debatten über Alfred Anderschs umstrittene Rolle im Nationalsozialismus sowie seine von Ruth Klüger bereits Mitte der 1980er-Jahre einmal als "Wiedergutmachungsphantasien" kritisierten, nach 1945 verfassten Werke nicht ab. 1993 hatte der Schriftsteller und Germanist W. G. Sebald in der Kulturzeitschrift "Lettre International“ eine erste moralische Attacke auf Anderschs werkbiografische Strategien und dessen tatsächliches persönliches Verhalten im Nationalsozialismus publiziert. Sebald wiederholte seine Argumente 1999 noch einmal in seinem Buch "Luftkrieg und Literatur", während seine Kritik unter anderem von dem Herausgeber der Kommentierten Ausgabe der Gesammelten Werke Alfred Anderschs, Dieter Lamping, zurückgewiesen wurde... Jörg Döring und Markus Joch haben nun also weitere Studien zu diesem Thema publiziert, die u. a. mit neuen Recherche-Ergebnissen aufwarten, welche die ganze Sache sogar noch einmal umso haarsträubender erscheinen lassen: Nicht nur, dass man zuletzt bereits bezweifelte, Andersch habe seine angebliche mutige Fahnenflucht aus der Wehrmacht im Jahr 1944, wegen der er sich als ‚kleiner‘ Widerständler im Kontext des Hitler-Attentats vom 20. Juli darstellte, bloß behauptet; ein historiografischer Beitrag von Rolf Seubert im Band von Döring und Joch lässt es jetzt sogar fragwürdig erscheinen, ob Andersch wirklich, wie in den "Kirschen der Freiheit" beschrieben, 1933 kurzzeitig Insasse des Konzentrationslagers Dachau war. Taucht er doch in den NS-Häftlingslisten jener Zeit nirgends auf, genauso wie er auch nicht, wie in "Kirschen der Freiheit" dargestellt, Organisationsleiter des kommunistischen Jugendverbands in Südbayern gewesen zu sein scheint – um hier nur einige der Ergebnisse der versammelten Beiträge anzudeuten. War Andersch tatsächlich nichts weiter als ein typischer Fall einer literarisch inszenierten "kumulativen Heroisierung" (Harald Welzer) nach dem Zweiten Weltkrieg? Der vorgestellte Band versucht, darauf differenzierte philologische und geschichtswissenschaftliche Antworten zu geben" (literaturkritik.de)
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