Daß die Poetik des Barock gänzlich von der rhetorischen Theorie determiniert sei, scheint zum gesicherten Wissensbestand der germanistischen Literaturwissenschaft zu gehören. Seit der Wiederentdeckung der Rhetorik in den 60er Jahren ist diese diszipilnäre Dominanz der Beredsamkeit über die Dichtung in zahlreichen Arbeiten bestätigt worden. Poesie gilt in der Forschung als "gebundene Rede" (oratio ligata), die von der rhetorischen Kunstprosa (der oratio soluta) nur durch ein formales Element, die Ligation, unterschieden sei. Joachim Dyck hat in seiner Arbeit über die barocke Ticht-Kunst (1966), die gleichsam als "Initialzündung" für die eben geschilderte Auffassung von einer weitgehenden Identität von Poesie und Kunstprosa gelten kann, diese Sicht mit Nachdruck vertreten; die Rhetorik beschränke sich im 17. Jahrhundert »keineswegs, wie oft angenommen wird, auf den engen Raum der Gerichts-, Beratungs- oder Lobrede. Ihre Macht zeigte sich überall da, wo es um sprachkünstlerische Darstellung ging. Sie nahm daher auch die Poetik unter ihre Schirmherrschaft, gab ihr Form und Gehalt und ließ dieser Sondergattung rhetorischen Schrifttums nur wenig Eigenständigkeit.« Im Unterschied zu diesem monokausalen Modell einer einfachen Subordination der Poetik unter die dominierende Rhetorik schlagen die nachfolgenden Ausführungen ein komplexeres Modell vor, das die Rolle der Rhetorik als konstitutives Element der frühneuzeitlichen Poetik nicht ignoriert - zugleich allerdings deutlich macht, daß sich die Überlegungen der frühneuzeitlichen Literaturtheoretiker keineswegs in einer einfachen Adaptation der klassischen Rhetorik erschöpften und sich die These von der weitgehenden Identität von Rhetorik und Poetik somit als eine allzu simplifizierende Sicht auf die poetologischen Reflexionen erweist. In diesem Sinne hat die anglistische und romanistische Forschung den geradezu "synkretistischen" Charakter der frühneuzeitlichen Poetiken herausgehoben. Kennzeichnend für die Bemühungen der Zeitgenossen sei demnach gerade nicht der monolithische Anschluß an eine einzige Tradition - die der klassischen Rhetorik -, sondern die Integration verschiedener heterogener antiker Theoriestömungen. Mit Blick auf die "Fusion" aristotelischer und horazianischer Elemente im 16. Jahrhundert hat dies etwa Marvin T. Herrick in einer grundlegenden Arbeit untersucht. Diese pluralistische Sicht läßt sich auch auf die Situation innerhalb der deutschen Barockpoetik übertragen. Hier integrieren die Theoretiker zwei einander widerstrebende antike Auffassungen vom Wesen des Dichters und des dichterischen "Schaffens"-Prozesses: Einerseits die wesentlich auf rhetorischen Grundlagen fußende Auffassung vom Dichter als "artistisch-technischem" Handwerker (poeta faber) , andererseits diejenige vom Poeten als "begeistertem" Dichter-Priester (poeta vates). Wie zu zeigen sein wird, gelangt mit der Intergration einer solchen Vorstellung von der "Inspiration" als (alleiniger) Ursache des Dichtens in einen rhetorik-determinierten humanistischen Kontext ein subversives Element in die Dichtungstheorie, das um 1700 schließlich zur Selbst-Dekonstruktion des Konzepts der frühneuzeitlichen Norm-Poetik führen wird. Der folgende Beitrag versucht, diese Geschichte anhand der drei wesentlichen Stationen zu erzählen, den antiken und frühneuzeitlichen Grundlagen (2.), der Integration "begeisterter" und "rhetorischer" Elemente in die humanistische Barockpoetik (3.), schließlich die aporetische Situation in der "galanten" Poetik um 1700 (4.). Eine wissenschaftsgeschichtliche Einleitung (1.) versucht zu klären, wie es überhaupt zu dem Konzept einer gänzlich durch die Rhetorik bestimmten Poetik kommen konnte.
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